Working with Clay - on art magazine (2024)

Warum Grayson Perry, Theaster Gates, Simone Leigh und Edmund de Waal Gefäße aus Ton herstellen. Versuch einer Annäherung.

Nicht nur als Künstler, sondern auch als Beobachter des Kunstbetriebs hat sich Edmund de Waal einen Namen gemacht. So spricht er im Jahr 2017 von einem "noticeable return" namhafter zeitgenössischer Künstler zu einem Material, das auch das seine ist, dem Ton. Im Folgenden geht es allerdings nicht darum zu verifizieren, was es mit diesem "return" auf sich hat. Stattdessen stellen wir die Frage, was die bereits in frühgeschichtlichen Epochen nachweisbare Nutzung eines Minerals, die wir als "Töpferei" kennen, für Künstler:innen unserer Zeit so anziehend macht. "Warum machen die das?", so etwa lautet die Frage, die wir stellen. Der Antrieb hierzu, das Aufkommen dieser Frage, lässt sich auf das gelegentliche Gewahrwerden zurückführen, dass Töpferei nicht nur ein kunsthandwerkliches, sondern eben auch ein künstlerisches Arbeitsfeld sein kann.

Wobei wir einräumen müssen, dass unser Interesse eine Wertung einschließt, die eigentlich nicht zulässig ist: Wer im Zusammenhang mit der Betrachtung einer Künstlerlaufbahn in der Töpferei einen parallel zum eigentlichen Œuvre verlaufenden Nebenweg sieht, muss den Vorwurf akzeptieren, Konstruktionen moderner Kunst Vorschub zu leisten, die diejenigen Elemente leugnen, deren konstitutive Bedeutung eigentlich nicht bestreitbar ist. So sieht es Edmund de Waal. Es gibt keine Nebenwege. Alles ist Kunst.

De Waal zitiert in diesem Zusammenhang den Dichter und Kunstphilosophen Herbert Read: "Pottery is pure art; it is freed from any imitative intention. Sculpture, to which it is most nearly related, had from the first an imitative intention and is perhaps to that extent less free for the expression of the will to form than pottery; pottery is plastic art in its most abstract essence."

Es soll also die künstlerische Freiheit sein, die dieses Material so anziehend macht? Herbert Read entwickelt hier seinen Freiheitsbegriff als Bewegung, die von ihrem Ausgangspunkt, der Unfreiheit in der die Natur nachahmenden Bildhauerei, geradewegs zur Töpferei führt. Das klingt gut, ist aber wenig überzeugend. Denn wann hätte es in der Kunstgeschichte die "imitative intention" jemals in einer solchen Strenge oder Reinheit gegeben, dass sie von den unmittelbar Beteiligten als Zwang empfunden werden musste? Außerdem war spätestens mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch in der figurativen Skulptur ein Maß an Freiheit erreicht, das Reads Fluchtbewegung überflüssig gemacht hätte. Und schließlich führt in der Töpferei eben nicht die Freiheit, zumindest nicht in erster Linie, sondern die Funktionalität das Regiment. Krug, Vase, Becher, Schüssel, Topf und Tasse sind zunächst einmal Gefäße und wenn nicht, sind sie unbrauchbar. Man darf einen dichten Boden erwarten, von dem aus sich mit diesem fest verbundene Wandungen emporschwingen, die, dort wo sie enden, eine Öffnung frei lassen, in die man Fließendes einfüllen und ausschütten kann: Wasser, Suppe, Honig, Kaffee, Öl, Urin, Farbe. Oder Salz, Mehl, Weizenkörner, Oliven, Kichererbsen. Deswegen sind Gefäße an eine im Prinzip unveränderbare Formgebung gebunden. Deswegen heißt es "Töpferei", "Pottery" und "Poterie". Es geht nicht um Freiheit, sondern um Töpfe.

Gleichwohl steckt in Herbert Reads Äußerung eine Schlüsselfrage: Warum beginnt jemand, der in der Lage ist, seinem Anliegen auf verschiedenen, High-End-Kunstansprüchen genügenden Wegen Ausdruck zu verleihen, Gefäße aus Ton herzustellen? Warum sich an einer Stelle betätigen, wo im landläufigen Verständnis Kunst in Kunsthandwerk übergeht?

"I liked anything that didn’t feel right."

Wahrscheinlich ist Grayson Perry der prominenteste Künstler, den man mit diesen Fragen in Verbindung bringen kann. Wenn man sich mit seiner Entwicklung beschäftigt, stellt man fest, dass er vom breiten Kunstpublikum erst wahrgenommen wurde, als ihm der Turner-Preis verliehen wurde. Damals hieß es: "the judging panel admired his use of the traditions of ceramics." Schon damals ging es also um Perrys Vasen.

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Mit denen Perrys Laufbahn jedoch nicht begann. In den 80er Jahren gehörte er zu den "Neo-Naturisten", einer Gruppierung britischer Performance-Künstlern. Man betrachtete sie im London der Thatcher-Ära als Teil der Hippie-Bewegung, die als Subkultur längst von radikaleren Avantgarden abgelöst worden war. Den Neo-Naturisten begegnete man damals eher mit einem gewissen Hohn. Statt sich zu widersetzen, eigneten sie sich, nunmehr selbst in einer provozierenden Rolle, diese Herabsetzung an und nutzten sie im Rahmen ihrer Selbstvermarktung. In dieser Zeit zeichnete, fotografierte und filmte Perry. Außerdem formte er aus Materialien, die er sammelte, Skulpturen. Es dauerte eine Weile, bis er begann, mit Ton zu arbeiten, zunächst indem er entsprechende Abendkurse besuchte.

Zur offiziellen Verleihung des Turner-Preises im Jahr 2003 erschien er als sein Alter Ego, das er "Claire" getauft hatte. Damit outete er sich als "Tranny". Ins Deutsche kann man das mit "Transe" übersetzen, eine Bezeichnung, die er sich zu eigen machte, obwohl auch von ihr gern in herabsetzender Weise Gebrauch gemacht wird.

In seinem Alter Ego sieht Perry etwas anderes als den Versuch, Frausein vorzutäuschen. Stattdessen besetzt er eine Position: Die liegt in dem Raum, der in Männergesellschaften gern den Frauen zugewiesen wird. Die britische Historikerin und Publizistin Lisa Jardine schreibt dazu, dass es Perry mithilfe Claires gelinge, Grenzen zu verwischen, und zwar die zwischen Häuslichkeit und Galerieraum, also zwischen Alltag und Exklusivität.

In diesen Zusammenhang gehört ein weiterer Punkt: Perry stammt aus Essex. Über die Leute aus Essex werden in London Witze gemacht, die man wahrscheinlich am ehesten mit deutschen Blondinenwitzen vergleichen kann. Auch die in der britischen großstädtischen Populärkultur verbreiteten Stereotype über den wide boy und seine Ladette aus Essex hat Perry weder zurückgewiesen noch bekämpft. Stattdessen hat er sich auch diesen Klassismus zu eigen gemacht und in seinen Auftritt integriert.

"When in doubt, bung it on!"

Und schließlich stellt sich für Perry die Frage, wie man ein Tongefäß macht: Je nachdem, wie man dieses Problem anpackt, kann man für sich auch daraus eine weniger vorteilhafte Ausgangsposition konstruieren. Für Perry ist es nicht der Ton, der ihn als Werkstoff anzieht. Attraktiv ist für ihn eher das Objekt, dessen Herstellung er sich zur Aufgabe gemacht hat. Es ist die Vase, die alltäglichste aller Keramiken, die mit ihrem Herstellungsmaterial die zweifelhafte Stellung zwischen Kunst und Kunsthandwerk teilt.

Über die Art, wie er die Arbeit an diesem Objekt angeht, sagt Perry: "Often the splendour of my work is in the man hours, rather than effortless". Perry arbeitet nicht an der Drehscheibe, an der aus eleganten, flüssigen Bewegungen der Hand eine Form emporwächst. Stattdessen bevorzugt er die mühevolle, amateurhafte Technik des Coilings für den Aufbau seiner Vasen. Aber auch dahinter verbirgt sich ein Kalkül: dass sich diese Formgebung besonders gut mit seinem motivischen Repertoire verbinden lässt.

Dieses Kalkül geht auf. Für diejenigen, die nicht aus den richtigen Vororten kommen, senken Perrys Vasen die Schwelle für Annäherungsversuche. Sie sind nicht posh und auch nicht distinguished. Gewiss ist aber, dass sie eine ehrlich gemeinte Einladung sind: Schaut uns genau an, wir sind bunt und prall, damit ihr uns anfasst und dreht und die ganze Geschichte mitbekommt, die mit jeder von uns erzählt wird.

The Poster Boy

Wenn man Perry mit Theaster Gates vergleichen möchte, fällt auf, dass auch bei Gates am Anfang die Schaffung eines Alter Egos steht. Perry präsentiert sich als "Claire", bei Gates war es ein Japaner namens "Shoji Yamaguchi". Klang das auch in japanischen Ohren japanisch? Egal. Egal, weil es funktionierte. Denn so gelang es ihm, seinen Ruf als Künstler zu begründen. Es geht allerdings um mehr als nur um einen Theatercoup: Zwar wird durch diesen Schritt, der die Anerkennung nutzt, die die westliche Kunstwelt japanischer Töpferkunst entgegenbringt, ein Täuschungsmanöver vollzogen. Doch das verkehrt sich in sein Gegenteil, sobald es aufgedeckt wird. Durch die sich verflüchtigende Illusion hindurch erscheint nun mit verstärkter Strahlkraft die eigentliche Position: Es ist die des afro-amerikanischen Künstlers, der erst sichtbar wird, nachdem er seine dunkelhäutige Identität abgelegt hat.

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"... from one vacant building to another."

Theaster Gates stellt sich bei Anlässen, bei denen man ihn als Redner erleben kann, gern mit dem Satz "I’m a potter" vor. Diejenigen, die diesen Satz nicht ernst nehmen und als Koketterie abtun, sehen in Gates lieber den "poster boy for socially engaged art". Dann geht es um den dinglichen, gern auch um den gesellschaftspolitischen, aber keinesfalls um den transzendentalen Charakter seiner Arbeit. So erinnert man sich im deutschsprachigen Raum vor allem im Zusammenhang mit der dreizehnten documenta an Theaster Gates. Als Austausch-Projekt zwischen dem Kasseler Hugenottenhaus und dem 6901 Dorchester-Haus im Süden Chicagos wurde tatsächlich und als direkte Folge dann auch in der Kunstpublizistik viel Material hin und her bewegt: Baumaterial, Möbel, Objekte – dazu Menschen, Konzerte, Performances. Es fehlte nicht viel, und die Kunstkritik hätte die im- und exportierten Balken und Steine einzeln gewürdigt.

Das Dorchester-Haus ist das erste Beispiel für den Transformationsprozesses, den Gates als circular economy bezeichnet: Er erwirbt ein Gebäude und funktioniert es um, nachdem es entkernt wurde. Die aus der Entkernung gewonnenen Materialien integriert er in den Kunstkontext und wertet sie damit auf. Den auf diesem Weg generierten Profit verwendet er, um weitere Immobilien zu erwerben, die erneut dem Prozess einer Transformation unterworfen werden.

Begleitend erwirbt Gates Konvolute, zum Beispiel Bücher, Schallplatten und Dias, und das bevorzugt dann, wenn diese – als öffentlich zugängliche Sammlungen integriert in seine transformierten Gebäude – Zeugnis ablegen von den Leistungen afro-amerikanischer Kultur.

In ihrem Zusammenwirken nehmen diese Aktivitäten starken Einfluss auf ihre Umgebung. Und zwar in organisierter Form: Theaster Gates hat mit seiner Rebuild Foundation eine Stiftung geschaffen, deren Auftrag als Non-Profit-Organisation die Wiederbelebung urbaner "Neighborhoods" ist, womit in erster Linie die überwiegend von Farbigen bewohnten, politisch vernachlässigten Stadtviertel von Chicago gemeint sind. Seit etlichen Jahren ist dies der Hintergrund, vor dem Gates als Töpfer arbeitet. Vor dieser Folie wird Töpferei Teil eines Gesamtkunstwerks der Erinnerung, die sich über verschiedene Aspekte der afro-amerikanischen Kunst erstreckt.

"To harness that beauty ..."

In seinen "Reflections on Making" schildert Gates die Eigenschaften, die er für notwendig hält, um seine Ziele als Potter zu erreichen. Es sind die Kenntnis der "alchimistischen Möglichkeiten" in der Natur, die Bereitschaft, hart zu arbeiten und sich dabei auf das Abenteuer von Experimenten einzulassen, deren Ergebnis nicht vorhersehbar ist. Alle diese Eigenschaften, die er in dem Zusammenhang, in dem er sie aufzählt, auf sein Material, den Ton, die Glasur und deren Brand bezieht, lassen sich auf die vielfältigen sozialen Prozesse beziehen, die seine Arbeit begleiten. Hierbei darf man, wenn er von alchimistischen Möglichkeiten spricht, durchaus davon ausgehen, dass den Prozessen, die er anstößt, etwas Magisches innewohnt, das sich allerdings mit einem Arbeitsethos und der Bereitschaft zum unternehmerischen Wagnis in einer Weise verbindet, wie sie amerikanischer (und auch protestantischer) nicht sein könnte. Daran ist bemerkenswert, dass diese Transformation widersprüchliche Aspekte zeigt, indem sie aus Kunst Immobilienentwicklung macht, wobei dennoch die Würde der Kunst bewahrt bleibt. In Parkett Nr. 98 schreibt dazu Andrew Herscher: "In diesem Sinn ist die von Künstlern initiierte Stadtentwicklung zugleich Symptom und Kritik der neoliberalen Privatisierung eines Sozialwesens und gleichzeitig liefert sie eine Antwort auf die Bedingungen, die sie hervorgerufen haben."

Wenn wir nun Theaster Gates selbst noch einmal befragen und dazu erneut seine "Reflections on making" zurate ziehen, ist dort nachzulesen: Es sind die afrikanischen Roots, es ist Dave the Potter, es sind die afrikanischen Inspiratoren von Künstlern wie Derain und Matisse und noch einiges mehr, mit dem sich Gates intensiv auseinandergesetzt hat. Daneben findet man aber auch Bekenntnisse, in denen er jede Art künstlerischer Identitätspolitik komplett hinter sich lässt. Zum Beispiel, wenn er an den Ort Mashiko, die Heimstatt japanischer Töpferkunst, denkt:

"Eternity is in that land. Eternity is the vessel. Eternity’s emptiness is our filling, and the outpour is the manifestation of the divine. We are saved by our hands and the labour of kin. We carry the marks of the Potter who made us, and every imperfection is yes and amen."

"And that is why … I have politely said black women are my primary audience"

Wenn die Frage gestellt würde, ob ihre monumentale Figur "Brick House" auch dann einen starken Eindruck verursachen könnte, wenn sie nur 30 oder 40 Zentimeter hoch wäre, müsste die Antwort "Ja" lauten. Und zwar, weil man eine Skulptur vor Augen hat, die einen interessanten Weg findet, ihren Inhalt in eine Form zu kleiden. Ihre Größe macht es dem Betrachter leicht, diese Qualitäten zu identifizieren. Wenn sie kleiner wäre, wäre das vielleicht nicht ganz so einfach, aber auch dann wären ihre herausragenden Eigenschaften noch gut zu erkennen.

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Dass diese Skulptur, so wie es Simone Leigh verkündet hat, ein Angriff auf die Hegemonie des Westens sein soll, lässt sich wohl weniger mit ihrer Monumentalität, sondern eher mit den Inhalten verbinden, für die sie stehen soll. Ein Angriff also. Okay. Ließ er die westliche Welt erzittern? Nein, das tat er nicht. Es wäre natürlich schön, wenn Kunst das könnte, aber auch gegen Simone Leighs Werke muss sich offenbar niemand verteidigen, im Gegenteil: Ist erst ein gewisser Punkt erreicht, wird einfach alles umarmt. Tatsächlich ist Leigh gelegentlich vorgehalten worden, dass sich der alles verdauende Kunstbetrieb ihr Schaffen trotz der Gesellschaftskritik, die sie mit ihren Arbeiten verbindet, ohne Magenverstimmung einverleiben kann. So zum Beispiel anlässlich der 79. Whitney Biennale, an der die Künstlerin beteiligt war. Über die Ausstellung hieß es, alles sei gut, aber angesichts des "repressive age of Trump" fehle es an visionären Kunstwerken, mit deren Hilfe dieses Zeitalter überwunden werden könne.

Auf diesen pauschalen Vorwurf reagierte Leigh mit einem Statement bei Instagram, mit dem sie das komplexe Gefüge beschreibt, in dem sie ihre Arbeit sieht. Sie kommt zu dem Schluss, dass man, solange die nötige Erfahrung fehle, die radikalen Gesten in ihren Arbeiten nicht erkennen könne. In ihrer Antwort beschränkt sich Simone Leigh nicht auf die sachliche Ebene, sondern zeigt deutlich ihre Wut. Damit setzt sie ein Signal: Wut ist für sie nicht länger Verstoß gegen die Regeln tolerablen "Benehmens", sondern Zeichen ihrer Blackness. Über diese Wut sagt die schwarze feministische Aktivistin und Dichterin Audrey Lorde, dass sie eine strategische Antwort auf Rassismus sei:

"Die Wut hat nur dann Risse in meinem Leben hinterlassen, wenn sie unausgesprochen blieb und niemandem nützte."

Hier wird mit einem Satz das Gefüge umrissen, das Leighs Schaffen bestimmt. Wobei Blackness nur einer der Begriffe ist, die hier eine Rolle spielen. Race gehört in diesen Kontext, Feminismus, Queerness, Negritude, Dekolonisierung, Afro-Atlantique Spirituality sowie ein ganzes Arsenal weiterer Begriffe, die sich auf die kunst- und kulturgeschichtlichen afrikanischen Wurzeln ihrer Kunst beziehen. In diesen Zusammenhängen ist nur am Rande von Ton als ihrem Material die Rede, obwohl es zahlreiche Arbeiten von ihr gibt, die aus Ton geschaffen wurden.

Vor allem in ihren kleineren Schöpfungen nutzt Leigh dieses Material und zeigt mit seiner Hilfe ein breites Spektrum von Formen, in denen sie politische Inhalte ausdrückt und über die Kombination der Formen miteinander in Verbindung bringt. Ohne dass dies ausgesprochen wird, darf man also annehmen, dass Ton genau das Material ist, das ihre Position als schwarze Feministin in einer rassistischen Gesellschaft am besten aufnehmen kann, weil Ton schon immer ein Rohstoff deklassierter Arbeit war. Ton ist also eigentlich kein Material der Wahl, sondern wie bei Theaster Gates der durch Erbschaft erworbene, ursprüngliche, angestammte Stoff, durch dessen Verwendung sich beide Künstler:innen mit ihrer Kultur und ihrer Geschichte vereinen.

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Es gibt aber dennoch eine klare Differenz zwischen den beiden Künstlern: Während Gates seine Kunst in einer Form des zirkulären Wirtschaftens entfaltet, die sich auf die afro-amerikanischen Quartiere Chicagos bezieht, um diese dadurch sichtbar zu machen und ihnen neuen Wert zu verleihen, erobert Leigh den urbanen Raum in den Sphären, die ursprünglich der weißen Kultur vorbehalten waren. Vielleicht kann man nur vor diesem Hintergrund verstehen, warum bei Simone Leigh aus Ton irgendwann Bronze wurde. Dafür gibt es sicher technische Gründe, zum Beispiel die Größe ihrer Skulptur "Brick House" und die besonderen Sicherheitsanforderungen, die wahrscheinlich für den Aufstellungsort gelten: "on display on the Plinth of New York City’s High Line". Andererseits gibt es auch hier dem Material innewohnende Eigenschaften: Bronze ist in der westlichen Kunstgeschichte neben Marmor das Material kanonisierter Skulptur. Und wenn der Kanon so etwas wie eine Festung ist, lohnt es sich, sie zu erobern.

Das Material der Deklassierten?

Ein weiterer Punkt, der ihn anders als die anderen hier erwähnten erscheinen lässt, kommt hinzu: De Waals Interesse gilt nicht dem gemeinen Ton, sondern dessen aristokratischem Nebenbuhler, dem Porzellan. Schließlich kommt noch etwas hinzu: Nichts in seiner Arbeit deutet darauf hin, dass er jemals die Absicht gehabt hätte, Fahnenträger (oder "Poster Boy") sozial engagierter oder politischer Kunst zu werden. Ihn betreffend stellen sich also in unserem Line-up ein paar Fragen.

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Die erste, wie er zum Ton gelangt ist, können wir relativ genau beantworten. Schließlich hat de Waal Selbstzeugnisse veröffentlicht. In seinem Buch "Die weiße Straße" heißt es:

"Ich war fünf. Mein Vater besuchte jeden Donnerstag einen Keramik-Abendkurs an der Kunstschule am Ort und nahm meine zwei älteren Brüder mit. Man konnte dort T-Shirts in Siebdrucktechnik verzieren oder Kunstharzbilder malen. Oben konnte man nach der Natur zeichnen, eine Dame vor einem drapierten roten Samtvorhang und einer Pflanze im Messingtopf, oder man ging in den Keller hinunter, um zu töpfern. Und ich wollte die Treppe hinuntergehen. Nach einer Stunde gab es eine Pause, ein Glas Fruchtsaft und ein Schokoladenkeks."

Wir kennen nun die biografischen Umstände, doch wissen wir noch nichts über die persönliche Motivation des späteren Künstlers. Man muss, wenn man diese kennenlernen will, etwas länger suchen. De Waal spricht im Zusammenhang mit seinem Schaffen gern von einem Arkanum, meint damit allerdings die jahrhundertelang währende, die Herstellung des Porzellans betreffende Unkenntnis des Okzidents und nicht das seinen persönlichen Antrieb betreffende Rätsel.

Wir müssen uns jetzt noch einmal daran erinnern, warum uns die hier genannten Künstler:innen beschäftigen: Weil es auch um den Grenzverlauf zwischen Kunst und Kunsthandwerk geht. Gibt es diese Grenze überhaupt? Und wenn ja, wo verläuft sie? Grayson Perry, Theaster Gates und Simone Leigh haben sich für Ton als Material entschieden, weil sie die Verwendung des Materials in Verbindung bringen mit einer gesellschaftspolitischen Positionierung oder politischen Botschaft, für die entscheidend ist, dass die Töpferei unter historischen Gesichtspunkten eine minderwertigere Tätigkeit war als die künstlerische. Genau das ist der Grund, warum sie sich mit dieser Tätigkeit identifizieren, und zwar durchaus in dem Sinne, wie man von einem "Klassenstandpunkt" spricht. Ton ist ein Material des Widerstands. Deshalb ist Ton das Material ihrer Wahl.

Bei Edmund de Waal sieht alles etwas anders aus, sodass man versucht ist zu sagen, er sei der einzige der hier erwähnten Künstler:innen, der mit Ton um des Tones willen arbeitet. Aber passt das wirklich? Tatsächlich verhält es sich so, dass für de Waal das Material seinen Wert nicht erst dadurch erhält, dass es mit einer Idee verbunden werden muss, sondern dass diese Verbindung bereits besteht. De Waals Bücher sind ein deutlicher Hinweis auf sein Bedürfnis, sein Tun zu deuten. Sich selbst und nicht nur seinen Lesern. Dies geschieht im Rahmen einer klaren Gewichtung:

"Ich bin Töpfer, sage ich, wenn man mich fragt, was ich mache. Ich schreibe auch Bücher, aber es ist Porzellan – weiße Gefäße –, die ich als mein Eigenes reklamiere …"

Dass dem Material und der mit diesem verbundenen Tätigkeit in der Selbstreflexion ausdrücklich eine Position höchster Relevanz zukommt, kennen wir bereits von Theaster Gates, Grayson Perry und Simone Leigh. Diese Relevanz entsteht durch seine kulturelle bzw. kulturgeschichtliche Bedeutung, von der wir sagten, dass sie in das Material eingeschrieben sei. Das klingt nach einer wesenhaften Verbindung, entsteht aber eigentlich erst durch die extensive Kontextualisierung, die von den hier genannten Künstlern betrieben wird. Bei Perry mithilfe seines Alter Egos, bei Theaster Gates ist es die circular economy, bei Simone Leigh die Rethorik des Kampfes, und schließlich ist es bei Edmund de Waal sein umfangreiches Schrifttum. Im Rahmen dieser verschiedenen Wege der Kontextualisierung wird dem Betrachter zusätzliches Material angeboten, in dessen Stofflichkeit sich die Künstler:innen stark unterscheiden. Gerade in der Betrachtung einer der Arbeiten von de Waal wird jedoch besonders deutlich, wie wenig diese Ergänzungen geeignet sind, eine zum Wesen des jeweiligen Werks vordringende Erklärung zu liefern. Es sind nicht nur de Waals Installationen, die als Erstes verkünden, dass sie ihren Betrachter jede Art von Funktionalität, aber auch kulturgeschichtliche Zusammenhänge vergessen lassen, und sodann, trotz des wortreichen Zutuns ihrer Erzeuger, ihre Autonomie gegenüber jeder Art von Kontext behaupten.

Regarding the pictures and a catalogue - thanks for support to: Whitechapell, Victoria Miro, Max Hetzler, Hauser & Wirth.

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